Manuskripte 2023

Kirchentag in Nürnberg

In dieser Datenbank haben Sie die Möglichkeit, Redebeiträge vom Kirchentag in Nürnberg 2023 einzusehen.

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Sperrfrist
Mi, 07. Juni 2023, 17.30 Uhr

Mi
17.30–18.30
in Deutscher Gebärdensprache mit Untertitelung in leichter Sprache
Eröffnungsgottesdienste | Großgottesdienst
Es ist höchste Zeit
Eröffnungsgottesdienst in Leichter Sprache
Christina Brudereck, Theologin und Autorin, Essen

I.  

„Lass Dir von niemandem erzählen,

Deine Zeit sei vorbei!“  

Diesen Satz hat ein ganz Alter gesagt.  

Benjamin Ferencz.  

103 Jahre alt.  

Seine jüdische Familie floh in den 1920ern in die USA.

Aufgewachsen ist er in der Bronx.  

Er war Chefankläger in den Nürnberger Prozessen.  

Und ihr letzter lebender Zeitzeuge.  

Wäre er heute hier – hier! – in Nürnberg, auf der Straße der Menschenrechte:

Ich glaube, er würde uns zunicken.  

Mit seinem besonderen Schmunzeln in den Augen.

In dem runzligen Gesicht.  

Und er hätte eine Bitte!  

Diese Straße, dieses Kunstwerk zu verstehen als eine Mahnung: Die Menschenrechte zu achten.

Sie weltweit zu achten. Und durchzusetzen.  

Benjamin Ferencz hat dafür seine ganze Lebenszeit eingesetzt.  

Nach Buchenwald und Flossenbürg.  

Er sah schlimmsten Verbrechern in die Augen.

Und Überlebenden.  

Ein Jahrhundertzeuge.   

 

II.  

„Der Augenblick ist gekommen, die Zeit erfüllt.“  

Diesen Satz hat einer gesagt, der vor langer Zeit starb.  

Jesus von Nazareth.  

Er wurde nur etwas über 30 Jahre alt.  

Seine jüdische Familie floh auch - vorübergehend.

Aufgewachsen ist er dann in einem Dorf.   

Wäre er heute hier – hier! – auf dem Kirchentag:  

Ich glaube, ja: Auch er würde uns zunicken.  

Freundlich. Zuvorkommend wie er ist.  

Wohl auch mit einer Bitte:  

Unsere Lebenszeit zu nutzen.  

Diesen Kirchentag zu verstehen als Chance.  

Jesus, der Zwei-Jahrtausendzeuge.  

„Der Augenblick ist gekommen, die Zeit erfüllt.“

Der Zeitpunkt.   

Ich höre in mir:  

Wieviel Zeit genau Dir bleibt: Jetzt ist die Zeit.  

Solange Du lebst – gibt es kein Zuspät.  

Nutze den Moment.  

Lass Dir von niemandem erzählen,  

Deine Zeit sei vorbei.  

Das Jetzt ist das Geschenk Deines Lebens.  

 

III.  

Ich lese – im Evangelium von Markus:  

„Nachdem Johannes gefangen genommen worden war, ging Jesus nach Galiläa und verkündete die frohe Botschaft Gottes.  

Er sprach:  

„Jetzt ist die Zeit: (Der Kairos.)  

Gottes gerechte Welt ist nahe. (Die Basileia.)  

Kehrt um und vertraut der frohen Botschaft!“  

Aus was für einer Zeit kommen diese Worte?  

Johannes der Täufer – war verhaftet.  

Er störte und wurde weggesperrt.  

Der jüdische Krieg ist gerade zu Ende.  

Der Tempel – zerstört. Eine Katastrophe.  

Trümmer, Tote, Trauma bestimmen das Leben.

Es ist eine erbarmungslose, gewalttätige Zeit.  

Und da – sagt Jesus: „Jetzt ist die Zeit.“  

In mir höre ich:  

Ist das nicht eine ganz ungünstige Zeit,um sich überhaupt öffentlich einzumischen?  

Und mit was für einer Botschaft?  

„Gottes gerechte Welt ist nahe.“  

Da sprach einer von der Nähe Gottes.  

Ja, er demonstrierte sie. Lebte sie. Ließ sie zu.

Stellte sie her.  

Ich höre nochmal Widerspruch in mir.  

Ist nicht eigentlich Zeit für Abstand?   

 

Besser, sich selber in Sicherheit zu bringen? 

Statt so sichtbar zu sein? Und angreifbar?  

Jesus äußerte eine Bitte: „Kehrt um.“  

Denkt es umgekehrt. Es ist die Zeit der Wandlung.

Macht es anders. Ihr könnt Euch ändern.  

Ja, diese Welt verändern.  

Wieder eine Frage:  

Geht das mit der Umkehr überhaupt?  

Wie denn?  

Jesus sagte:  

„Vertraut!“  

In einer Zeit voller Misstrauen.  

„Der frohen Botschaft!“  

Der guten Nachricht.  

In einer Zeit der schlimmen Nachrichten.

   

IV.  

Ich muss innehalten. 

Wie ist das mit der Zeit – wenn die Hoffnung dauernd rote Zahlen schreibt?

Und die kalte Gier sich die Hände reibt.  

Mit lauter Gehässigkeit.  

Wenn nicht frischer Wind weht, sondern heiße Luft.  

Und verpufft, was wir ersehnt.  

Dass die Kluft zwischen Tun und Wollen uns entzweit.   

 

Wenn der Mut sinkt, weil das Wasser steigt.

Und der Wald brennt.  

Und das Eis schmilzt.  

Und Biene, Löwin und Koralle, Regenbögen, Regenwälder, Roggenfelder sind dem ‚Frühermal‘ geweiht.         

Auch, weil Bequemlichkeit diese Welt immer mehr in die Enge treibt.  

Die einen in die Flucht.  

Die andern in Verlegenheit.  

Wir sind doch nicht gescheit.  

Und wie ist das mit der Zeit – wenn unsere Vergesslichkeit macht, dass Geschichte schweigt?!  

Und es zeigt – sich, wir sind nicht davor gefeit, preiszugeben, was doch kostbar ist, erobert und erprobt.  

Demokratie. Toleranz. Vielfalt. FreiHEIT.  

„Nie wieder“, heißt doch unser Eid.  

Familie Mensch ist himmelweit – entfernt von Würde, Beteiligung, Gerechtigkeit.  

Vom Frieden sowieso. Die Erde weint.  

Was ist denn mit der Zeit?  

Wenn uns keine Zeit mehr bleibt?   

 

Was ist denn mit der Zeit?  

Wenn uns keine Zeit mehr bleibt?  

Dann – wünsche ich uns heiliges Geleit.

Eine noch ganz andre Möglichkeit.  

Dann braucht die Zeit die Ewigkeit.  

Wisst Ihr was?  

Ich schrieb diese Predigt.  

Da starb Benjamin Ferencz. Mit 103 Jahren.  

In den Nachrufen hieß es: „Er war ein Gigant!“  

Viele schrieben: „May his memory be a blessing.“

Die Erinnerung an ihn möge ein Segen sein.  

Wisst Ihr was?  

Er starb am 7. April. Das war Karfreitag.

   

V.  

„Jetzt ist die Zeit“, sagte Jesus.  

Und erlebte viel Widerspruch.  

Der Anstifter der Liebe. 

Der große Lebensfreund.  

Die Verachteten standen auf.  

Die Kleinen entdeckten ihre Würde.  

Außenseiterinnen wussten sich willkommen.  

Er war ein Mensch aus Liebe.  

Unser Bruder.  

Mit einem so heilsamen Wesen.  

Brot wurde geteilt.  

Gottes gerechte Welt schien nah.   

 

Diese Nähe beglückte sie.  

Und diese Glückserfahrung wurde zu einer Kraft.  

Und er starb. Am Karfreitag.  

Die Erinnerung unterbricht mich.  

Es ging nicht sofort weiter.  

Und das ist auch wohltuend.  

Ich muss nicht immer sofort weiterglauben.

Weiterhoffen. Planen. Sorgen. Mühen.  

Ich darf mal innehalten.  

Das ist jesuanisch!  

Dass der Tod uns unterbrechen darf.

   

VI.  

Vielleicht ist das ein Geschenk, dass die Christenheit unserer Zeit machen kann:  

Dass da Raum ist. Mitten in den Krisen.  

Einen Moment still zu sein. Zu klagen.  

Das Müssen zu lassen.  

Nachzudenken. Die Trauer gutzuheißen.  

Trauer um verlorene Jahre. Verpasste Chancen.  

Unerfüllte Träume.  

Zuzugeben auch, dass wir uns ohnmächtig fühlen.  

Die Christenheit, Kirche, Kirchentag könnten für eine Erlaubnis einstehen:  

Wir brauchen die Güte. Denn wir sind verletzlich.  

Wir – wie unsere Erde.   

 

Wie unsere Demokratie.  

Wie unsere Vorfahr*nnen. Unsere Kinder.  

Wie Jesus verletzlich und verwundet war.  

Und gerade da – zeigte sich ja Gott.  

Da wurde Ostern. Das Wunder aller Wunden.

 

VII.  

Die Vertrauten von Jesus damals kamen allmählich zu der Überzeugung, dass er lebt.

Sie begannen zu vertrauen:  

Gott lässt Jesus nicht im Tod.  

Die LIEBE seines Lebens wird bestätigt.  

Es bewegte sie, nicht mehr der Angst zu folgen, sondern der Liebe zu glauben.  

Das ist das Unglaublichste des Glaubens.  

Das Trotzigste.  

Es unterbricht und widerspricht allem.  

Er stand auf.  

Nicht aus eigener Kraft.  

Und nicht nur für sich.  

Mit Auferweckungsenergie.  

Diese göttliche Lebenskraftn kann Geschöpfe, Beziehungen, Ideen beseelen.  

Wir sind nicht allein.  

Jesus, der charmante Komplize unserer Hoffnung, geht an unserer Seite.  

„Wo zwei oder drei in meinem Namen in Gemeinsamkeit zusammenkommen, bin ich mitten unter ihnen.“   

 

Die göttlich neue Wirklichkeit ist nah.  

Diese Nähe ist eine wirkmächtige Kraft.  

Die gerechte Welt Gottes.  

Die Ewigkeit geht Hand in Hand mit unsrer Zeit.  

Die Fülle der Zeit.  

Gott, die Ewige ist eine, die trotz allem bleibt.

Extra Meilen geht, meilenweit.  

Uns beschenkt mit neuer Leichtigkeit.  

Ich mag die Vorstellung, dass die heute hier ist.

Hier!  

Auf der Straße der Menschenrechte.  

Auf dem Kirchentag.  

Über uns. Neben uns. In uns. Mit uns.  

Sie tanzt zwischen den Reihen.  

Berührt uns.  

Hm? Lasst uns leben – mit der Kraft ihrer Nähe.  

Ich weiß, dass sie sich selten mal beeilt.  

Ich fürchte auch, dass sie nicht alles heilt.  

Ich erlebe aber, dass sie gerne Mut verteilt.  

Und Amen! Das werde wahr mit uns.


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